Transgenerationales Trauma

Die Eichel fällt nicht weit vom Stamm.

Was ist ein transgenerationales Trauma?

Ein transgenerationales Trauma ist ein Trauma, das im Leben eines Vorfahren vorgefallen ist, dessen Folgen aber noch in Ihrem Leben fortwirken. Es wird auch weitergegebenes Trauma oder vererbtes Trauma genannt.

Die Folge eines weitergegebenen Traumas können seelische Belastungen Ihres Lebens sein – mit leichten bis schweren Einschränkungen der Lebensqualität. Diese Einschränkungen können sich bemerkbar machen durch Blockaden, emotional abgestumpfte Gefühlszustände oder Überreaktionen in bestimmten Lebenssituationen mit schockähnlichen Symptomen wie Schwindel, Übelkeit, Herzrasen und Unwirklichkeitsempfindungen.

Auch psychische Krankheiten können die Folge sein. Sie erreichen zwar nicht die Schwelle einer posttraumatischen Belastungsstörung, können aber die Hintergründe für andere seelische Krankheiten wie Angststörungen, depressive Stimmungen (Dysthymie), Missbrauch von Substanzen (Medikamente, Drogen, Alkohol, Nikotin) oder auch psychosomatische Krankheiten (somatoforme Störungen) sein.

Folgen können aber auch besondere Unfallneigungen sein oder ähnliche Schicksale oder Schicksalsschläge über mehrere Generationen hinweg. In seltenen Fällen treten diese Schicksalsschläge in jeder Generation immer zum selben Tag und Monat auf, so wie der Uhrzeiger immer wieder an der XII vorbeikommt, wenn er durchs Zifferblatt läuft (sogenannter „Jahrestag„). Ein Jahrestag zeigt sich auch dadurch, dass sich die Verbindung einer Lebenssituation mit einem Datumsbezug immer wieder wiederholt. Humbug? Der Autor dieser Zeilen hat in der Geschichte seiner Herkunftsfamilie ein Jahrestagsphänomen, dass sich insgesamt viermal wiederholte.

► Wie kann das Trauma eines Vorfahren auf seine Nachfahren fortwirken?

Wie kann das Trauma eines Vorfahren auf seine Nachfahren fortwirken?

Es gibt verschiedene Erklärungsansätze für diese transgenerationalen „Kräfte“, die diese Belastungen im Mehrgenerationensystem auslösen. Zum Beispiel der Mechanismus der „Weitergabe“, der unter generationenübergreifend arbeitenden Psychoanalytikern und Systemtherapeuten bekannt ist. Bei der Weitergabe wird ein emotionales Defizit des Vaters oder der Mutter an das Kind weitergegeben, in dem das Kind aufgrund des Defizits eine bestimmte Zuwendung nicht erhält und somit dieses Defizit wieder an seine Kinder weitergibt oder versucht, das Defizit auszugleichen und das Gegenteil weitergibt.

Ein konkretes Beispiel aus dem Alltag: Stellen Sie sich einfach vor, wie Sie sich fühlen, wenn Sie angeschrien werden. Kaum jemand bleibt in so einer Situation in derselben Gefühlsverfassung wie zuvor. Sie schreien entweder zurück. Oder Sie werden unsicher, verstummen, fühlen sich tief verletzt, etc. Sie reagieren auf das Anschreien. Sie reagieren unmittelbar auf den emotionalen Ausbruch Ihres Gegenübers. Die emotionale Wucht des Ausbruchs schwappt auf Sie über. Die „Energie“ ist an Sie weitergegeben und wirkt in Ihnen weiter fort.

Nicht anders ist es bei dem Mechanismus der Weitergabe, die sich dadurch festigt, in dem sie in die Selbsterfahrung der Kinder immer und immer wieder integriert wird, bis aus der Selbsterfahrung etwas wird, das man als Teil von sich selbst annimmt. Das hat viel vom Wesen der Schallplatte. Wer ein Trauma erlebt und nicht verarbeitet, in dem bildet sich eine Rille in der Seele. Diese erzeugt immer dieselbe Melodie. Die Kinder hören die Melodie. Ihre Seele ist noch rein und wenig geformt. Sie hören die immer wiederkehrende Melodie und die Melodie prägt sich auch in ihnen ein und erzeugt eine neue Rille, die der des Elternteils ähnelt oder gegensätzlich dazu ist. Auf diese Weise kann eine sehr laute Melodie von Generation zu Generation weitergetragen werden. In Ausnahmefällen kann ein Betroffener der Folgegeneration in der Aufarbeitung eines transgenerational weitergegebenen Traumas sogar die Bilder sehen und die klaren Gefühle erleben, die das Trauma erzeugten, aber nicht von ihm stammen.

► Techniken um generationenübergreifende Belastungen zu überwinden

Generationenübergreifende Belastungen überwinden

Transgenerationale Arbeit bündelt hilfreiche Techniken, um ein Thema mit Sichtweise auf mehrere Generationen zu betrachten und zu bearbeiten.

  • Wir arbeiten mit Methoden der systemischen Beratung und Therapie wie zum Beispiel mit Hilfe des Genogramms (eine Art Stammbaum für therapeutische Zwecke) oder mit Miniaturaufstellungen.
  • Wir arbeiten aber auch mit Methoden unserer ganzheitlichen Traumatherapie mit Techniken des EMDR. Gerade durch EMDR besteht eine Chance, an weitergegebene Traumata heranzukommen und sie emotional zu verarbeiten.
  • Auch Rückführungen und die Arbeit mit inneren Bildern können zur Aufarbeitung genutzt werden.
► Die Auswirkungen des zweiten Weltkriegs reichen bis heute

Die Auswirkungen des zweiten Weltkriegs reichen bis heute

Wir (Mechthild Herrlinger und Robert Bertol) gehören zur Enkelgeneration des 2. Weltkriegs, der Kinder der Kriegskinder. Mit dem 2. Weltkrieg verbindet uns persönlich nichts. Er war vor unserer Zeit. Und dennoch, obwohl der Krieg nunmehr 70 Jahre vorbei ist und im deutschen Alltag nur noch von der ältesten Generation als selbsterlebte Vergangenheit wahrgenommen wird, dennoch bestimmt er unser Leben und auch das Leben vieler Mitmenschen. Warum?

Weil wir Kinder und Kindeskinder der Kinder sind, die den Kriegsfolgen ausgesetzt waren.

Man möchte meinen, dass die Kinder nicht viel unter dem Krieg gelitten haben. Weil man sich heute kaum noch wirklich vorstellen kann, Kinder Kriegsfolgen auszusetzen. Kinder würde man in Sicherheit bringen und auf sie Rücksicht nehmen. Das Gegenteil war jedoch damals der Fall. Viele Kinder haben den Krieg hautnah miterlebt. Bombenangriffe, Sirenen, Schießen, Sterben, Hungern, Frieren, Flucht, Gewalt.

Das war für die Erwachsenen schon mehr als schlimm. Die Kinder hingegen hatten noch nicht einmal die geistigen Möglichkeiten, das Erlebte zu verstehen, um es verarbeiten zu können. Erschwerend kommt hinzu, dass der Gesellschaft nicht das heutige psychologische Allgemeinwissen zur Verfügung stand. Kriegsverarbeitung bestand im Regelfall im Verdrängen und Vergessen.

Die Folge war, dass diese Kinder nicht nur traumatisiert wurden, sondern ihre Traumata häufig auch nicht verarbeiten konnten. Sie mussten funktionieren wie die Erwachsenen. Ein Teil ihres kindlichen Wesens blieb dadurch in den traumatischen Erlebnissen haften und konnte sich nicht weiterentwickeln. Sie hatten verständliche emotionale Defizite und diese Defizite beeinflussten die Erziehung ihrer Kinder.

Man gibt in der Regel an seine Kinder das weiter, was man selbst als Kind empfangen hat. Teilweise entscheidet man sich auch bewusst für das Gegenteil. In beiden Fällen handelt man aber unter dem Eindruck der eigenen Erlebnisse. Auf diese Weise haben die Kriegskinder auch zum Teil ihre nichtverarbeiteten Traumata weitergegeben: Mangel wurde zu Mangel oder manchmal auch zu Überfluss. Doch weder das eine noch das andere ist auf gewöhnlichem Boden gewachsen.

Wir Enkel und Urenkel der Kriegsgeneration haben zwar somit nicht die schrecklichen Erlebnisse des Krieges erlebt, aber wurden dennoch in seiner Luft groß. Ohne dass wir wüssten, warum diese Luft so riecht wie sie riecht, und ohne dass uns die Luft als solche auffallen würde, weil wir keine andere Luft kennen. Unsere inneren Nöte, die daraus entstanden sind, können wir nicht begreifen, weil wir die Ursachen nicht greifen können. Sie entstanden durch Erlebnisse, die nicht unsere Erlebnisse sind. Das macht ihre Aufarbeitung mit therapeutischen Mitteln, die auf die eigene Lebensgeschichte zielen, schwierig.

Transgenerationale Arbeit ist ein Weg, der sich hierfür anbietet.